Das Virus und der Zwang zur Veränderung.
Da sitze ich nun vor meiner brandneuen Website fülle einen ersten Blog-Artikel mit Leben. Natürlich geht es darin um die Corona-Pandemie und die Veränderungen, die sich daraus für mittelständische Unternehmen ergeben. Denn nichts hat die Wirtschaft und die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten so sehr verändert wie diese aktuelle Krise.
Das Virus trifft die Weltwirtschaft und damit den Mittelstand hart. Die Medien sind voller düsterer Prognosen. Viele Menschen sorgen sich um ihren Arbeitsplatz, ihre Gesundheit und die ihrer Liebsten aus der „Risikogruppe“. Händeringend versuchen wir alle, in der Zeit der absoluten Unsicherheit so etwas wie eine neue Normalität zu etablieren und erleben dabei immer neue Phasen der eigenen Gedanken und Gefühle.
Vom unerwünschten Change-Prozess
Jeder von uns erfährt gerade die heftige Dynamik eines großen unerwünschten Change-Prozesses am eigenen Leib in voller Intensität. „Unerwünschte Change-Prozesse“ sind die, die nicht geplant waren. Sie passieren, wenn man zu lange gewartet hat, zu lange in der Komfortzone verharrt und verdrängt hat. Wenn man meinte, man könne Probleme aussitzen und dann verschwänden sie von selbst. Dann serviert das Leben oft die volle Breitseite, und es wird richtig unangenehm.
Und genau das erleben wir jetzt auf verschiedenen Ebenen: in unserer eigenen Psyche, in unserer Familie, unserem Freundeskreis, den Unternehmen, den öffentlichen Einrichtungen, der Politik und der globalen Weltöffentlichkeit. Das absolut Besondere, nie Dagewesene an dieser Situation ist ihr globales Ausmaß. Anders als in allen Krisen zuvor kann sich hier NIEMAND entziehen. We are in this together. Wir können nicht flüchten, alle sind gezwungen hinzuschauen und mitzumachen bei diesem riesigen unermesslichen Change-Prozess.
Das Corona-Virus bringt viel ans Licht. Es macht den wahren Zustand von Systemen bewusst. Auf der persönlichen, psychischen Ebene heißt das zum Beispiel: Menschen, die bereits zuvor mit einem Ehrenamt geliebäugelt haben, aber nie Zeit hatten, bieten an, für Alte und Kranke einkaufen zu gehen. Über den Erdball verteilte gute alte Freunde machen plötzlich Zoom-Konferenzen und entdecken, wie man per Videocall Tausende von Kilometern überbrücken kann. Aber es gibt auch die andere Seite: Workaholics, die sich vorwiegend über den Beruf definiert haben und nun alleine im Homeoffice sitzen oder in Kurzarbeit sind, werden mit ihrer Einsamkeit konfrontiert. Ängste und unverarbeitete Probleme kommen hoch und belasten zusätzlich.
Wer nun gut durch die Krise kommt.
Und auch der wahre Zustand von mittelständischen Industrie-Unternehmen zeigt sich. Diejenigen, die schon vorher „gut aufgestellt“ waren, kommen besser durch die Krise. Wurden bereits seit längerem Heimarbeit-Regelungen und Videokonferenzen eingeführt? Dann war es einfacher, vor einigen Wochen die Mitarbeiter für unbestimmte Zeit ins Home-Office zu verabschieden. Wurde schon vorher der internationale Lieferantenpool gut gepflegt und auch mal bei Zuliefern um die Ecke eingekauft? Dann entstehen wahrscheinlich wenige oder keine Engpässe bei der Materialversorgung. Gab es schon vor der Krise eine transparente Kommunikation zwischen Vorgesetzen und Mitarbeitern? Dann kann ein Chef auch übers Telefon leicht herausfinden, was im Homeoffice gerade wirklich abgeht. Und last but not least: Sind die Leute zufrieden mit ihrem Job? Dann werden sie loyal und flexibel auch unkonventionelle Krisenmaßnahmen unterstützen, um ihren Arbeitsplatz zu retten und der Firma durch die Krise helfen.
Mutige Unternehmer schauen genau hin.
Auch für die Unternehmen, die nun arg krisengebeutelt sind, besteht Hoffnung. Das gute alte Statement von „der Krise als Chance“ stimmt. Ja, die Umsatzeinbrüche mögen dramatisch sein. Ja, es mag an die Rücklagen gehen und an die Substanz. Ja, die Firma ist natürlich abhängig von den politischen Maßnahmen, und die sind nicht planbar. Und ja, eventuell sind auch gerade gar nicht mehr so viele Mitarbeiter übrig, die irgendetwas gestalten können.
Und trotz all dieser Einwände gilt es nun für Corona-geplagte Unternehmer, mutig zu sein. Sich zu sammeln, Kräfte zu mobilisieren und sich der Situation zu stellen. Hinzusehen. Sich bewusst zu machen, welche bereits vorher vorhandenen Probleme durch Corona aus der Dunkelheit ans Licht befördert wurden.
Dieses Hinsehen erfordert viel Mut, denn meist geht es auch um die eigenen Entscheidungen der Vergangenheit. Wo wurde ein vermeintlich lukratives Projekt angenommen, obwohl das Bauchgefühl „nein“ gesagt hat? Wo wurde versäumt die Organisation schlanker und flexibler zu machen, weil man ja mit dem Tagesgeschäft voll ausgelastet war und keine Zeit für Strukturthemen hatte? Wo wurde versäumt, motivierte Nachwuchsingenieure zu Führungskräften auszubilden, weil die alten Hasen auf den Schlüsselpositionen ja noch 10 Jahre bis zur Rente haben? Und warum hat eigentlich nie jemand darüber nachgedacht, wie ebendiese alten Hasen ihre jahrelange wertvolle Erfahrung optimal einbringen können und gleichzeitig die Top-Führungspositionen für Jüngere frei machen?
Es geht nicht darum, mit den Entscheidungen und Versäumnissen der Vergangenheit zu hadern oder ein Problemdenken zu haben. Es geht vielmehr darum, die richtigen Fragen zu stellen über den Zustand des Unternehmens und dabei schonungslos ehrlich zu sein. Dabei ist es wichtig, nicht in schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen zu verharren. Es hatte einen Grund und auch einen Nutzen, dass diese Entscheidungen so getroffen wurden – und dass einige Entscheidungen ebenso nicht getroffen wurden. Der Fokus sollte auf der Lösung liegen, nicht auf dem Problem. Auf dem Lernen. Ein schönes Zitat dazu von Steve de Shazer, dem Begründer der „lösungsorientierten Kurzzeittherapie“: „problem talk creates problems, solution talk creates solutions.“ Also gilt es, den Blick nach vorne zu richten und sich die Frage zu stellen: „was lernen wir aus der Vergangenheit und was muss in Zukunft anders werden?“
Die Vision als Leuchtturm in Krisenzeiten und eine Geschichte aus Kambodscha.
Es gibt eine Wunderwaffe in allen Veränderungsprozessen: die Vision. Die Vision von einer besseren Zukunft. Eine bildhafte Vorstellung, wie es sein könnte. Wie es sein müsste, damit es gut ist. Diese Vision hält Menschen und Unternehmen in den dunkelsten Zeiten am Leben. Und der feste Glauben daran, dass die Vision irgendwann Realität wird.
Da die Corona-Pandemie etwas Existenzielles ist, in der es um Leben und Tod geht, hier dazu eine kleine Geschichte über das Überleben, die mich sehr bewegt hat:
Letztes Jahr reiste ich nach Kambodscha. Dort herrschte von 1975 bis 1979 das Regime der Roten Khmer unter Pol Pot und tötete ca. zwei Millionen Menschen im Namen der Ideologie eines Agrarkommunismus. Selbst das Tragen einer Brille war dort ein Grund ermordet zu werden, denn dies symbolisierte in den Augen der Roten Khmer die Zugehörigkeit zur akademischen Klasse.
Tief berührt von der grausamen Geschichte des Landes und den freundlichen, friedlichen Menschen dort heutzutage besuchte ich die „Killing Fields“ in der Nähe der Hautpstadt Phnom Penh. Dort höre ich bei der Führung über den Audio Guide folgende Geschichte eines Mannes, der den Genozid als Jugendlicher überlebt hat und später der Leiter des DC-Cam (Documentation Center of Cambodia) wurde.
Dieser Mann war 13 Jahre alt, als die Khmer Rouge die Macht ergriffen. Er ging eines Tages mit seinem Fahrrad und einem Buch nach draußen und wurde von den Soldaten ergriffen und deportiert. Er litt, wurde gefoltert und von seiner Familie getrennt. Einen Teil seiner Familie sah er nie wieder. Dennoch hat dieser Mann nie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren. Während der Zeit in Gefangenschaft hatte er ein Bild von sich stets vor Augen. Er stellte sich vor, wie er eines Tages Englisch sprechen würde und wieder zur Schule gehen würde. Jeden Tag glaubte er daran und es gab ihm Hoffnung. Diese Vision speiste sich zusätzlich aus einem Traum, den seine Mutter einmal gehabt und ihm erzählt hatte: Sie träumte, sie habe ihn, ihren Sohn, im Dschungel verloren. Sie war deswegen völlig verzweifelt und suchte ihn. Dann sah sie ihn plötzlich, wie er sich in den Baumkronen erhob und sich von Baum zu Baum schwang. Und da wusste sie, dass es ihm gut gehen würde und dass er eines Tages ein starker, erfolgreicher Mann sein würde.
Der Mann erzählte, dass er selbst in den dunkelsten Stunden der Deportation nie daran dachte aufzugeben oder gar zu sterben. Seine Zukunftsvision und der Traum seiner Mutter gaben ihm die nötige Kraft und Hoffnung zu überleben. Als die Schreckensherrschaft von Pol Pot zu Ende war, ging er in die USA, studierte und wurde eine erfolgreiche Führungspersönlichkeit. Schließlich kam er zurück nach Kambodscha und wurde Manager der ersten freien Wahlen dort.
Seine Vision einer besseren Zukunft hat diesen Mann in einer scheinbar ausweglosen Situation am Leben gehalten. Und dies ist ebenso anwendbar auf Unternehmen und Unternehmer am Tiefpunkt einer Krise: Es geht darum, der negativen aktuellen Situation ein positives Bild der Zukunft entgegen zu setzen. Diese Vision einer besseren Zukunft für das Unternehmen dient als Quelle, um Kraft für die tägliche Arbeit an der Veränderung zu tanken.
Eine Zukunftsvision darf intuitiv entstehen, zum Beispiel mit Hilfe eines Vision-Boards. Diese Kreativ-Technik nutzt Bilder und Kollagen und aktiviert vor allem die unbewussten Ebenen. So kann ein Vision-Board immer wieder inspirieren und als Basis dienen, um Strategie, Veränderungspläne und Maßnahmen abzuleiten. Und wenn es zu einschneidenden Maßnahmen kommt, dann hilft ein Blick auf die Vision immer wieder, sich die Frage nach dem „warum“ zu beantworten und sich wieder positiv auszurichten. Außerdem kann die Vision genutzt werden, um das Team zur Veränderung zu motivieren. Visionen sind kommunizierbar, schaffen eine Perspektive und geben damit allen Beteiligten Hoffnung und eine Richtung für ihr eigenes Handeln.
Nur wer sich selbst rettet, kann Unternehmen retten.
Selbst die stärksten Menschen fühlen sich hin und wieder unsicher. Vor allem in Zeiten von Corona. Auch mit einer klaren Vision im Rücken und einem guten Team kann manchmal alles zuviel werden. Angst kann sich schnell breit machen und zu Gedankenschleifen führen. Was, wenn wir trotz aller Anstrengungen den Turn-Around nicht schaffen? Wenn das Geld knapp wird oder Mitarbeiter krank werden? So manch eine Führungskraft fragt sich: Wie soll ich das alles schaffen, andere zu führen, ein Vorbild mit einer starken Vision zu sein und mich gleichzeitig um meine Familie und meine Freunde zu kümmern?
Angst und Zweifel sind völlig normal in Veränderungsprozessen. Man kann sie nicht abschalten, aber man kann lernen, gut mit ihr umzugehen und sie als Lehrmeister über sich selbst zu nutzen. Dazu mehr in einem der nächsten Artikel. Für alle Unternehmer und Menschen in Veränderungsprozessen ist es vor allem wichtig, die eigene Energie hoch zu halten und die eigenen physischen und psychischen Ressourcen zu schützen. Das ist sehr leicht gesagt und für viele sehr schwer umzusetzen. Es ist aber alternativlos. Wer ständig über seine Grenze geht, wird früher oder später ausbrennen. Und daher sollte es tatsächlich die Pflicht von jedem Menschen sein, der Verantwortung für andere trägt, seine eigene Gesundheit auch in Zeiten von Corona an erste Stelle zu setzen. Und das ist nicht damit getan, indem man sich eine Stoffmaske vor den Mund bindet. Damit ist gemeint, die eigenen Grenzen der Belastbarkeit wahrzunehmen, anzuerkennen und sein Leben danach auszurichten. Wer selbst körperlich und geistig leer ist, kann kein Unternehmen retten.
Es soll nicht belehrend klingen, aber es ist nun mal leider so, dass zahlreiche Führungskräfte am Rande der Belastungsgrenze und darüber hinaus arbeiten. Das funktioniert über einen gewissen Zeitraum, weil der Körper ein treuer Diener ist und in den Kampfmodus schaltet, um alles zu schaffen. Aber Corona ist kein Sprint von wenigen Wochen. Corona ist für die meisten ein Marathon über einen längeren Zeitraum. Und den sollte man nicht im Dauerkampfmodus bestreiten.
Und daher ist alles, was das eigene Wohlbefinden stärkt, heute wichtiger denn je. Für alle Menschen und umso mehr für diejenigen, die am meisten Verantwortung tragen und sich oft am wenigsten Zeit für sich selbst zugestehen. Ein ernstgemeinster Appell an alle Gestressten: die Laufschuhe rausholen, an die frische Luft gehen, auf einen See schauen, sich mit einem guten Freund bzw. einer guten Freundin verabreden, die Partnerin bzw. den Partner umarmen und küssen, ein paar Blumen im Garten pflanzen, einfach mal tief durchatmen, ein Wochenende das Handy ausschalten, ausschlafen und einfach mal gar nichts tun – all das und noch so viel mehr verdient gerade jetzt Zeit und Raum. Je mehr Kraft, Stabilität und innere Ruhe die Verantwortungsträger/-innen ausstrahlen, desto besser gelingt Veränderung in dieser ohnehin schon verrückten Zeit.
Alles ist nur vorübergehend
Auch die schlimmste Krise ist irgendwann vorbei. Wer bereits heute an der Talsohle aktiv an der Zukunft arbeitet, der profitiert langfristig. Mutig hinschauen, den Negativ-Haltungen eine positive Zukunftsvision entgegensetzen und sich mit langem Atem auf die Reise machen und dabei das Team einbinden, wird sich früher oder später auszahlen. In diesem Blog, in meinen Seminaren und in der Zusammenarbeit mit mir erhalten Sie hierfür Impulse und Unterstützung. Über Kommentare hier unter dem Blog oder Feedback freue ich mich.
Alles Gute für diese lehrreiche intensive Zeit.
Anna-Lena Schulte-Gehrmann
Nun ist dieser Blog-Artikel bereits fast 2 Jahre her und Deine Aussagen bewahrheiten sich umso mehr. Diese Krise ist, wie so viele, keine kurzfristige Erscheinung. Es ist zu einem Marathonlauf geworden. Aus eigener Erfahrung mit ganz persönlicher Krise, ohne extreme externe Umstände, kann ich nur unterstreichen, dass die Zuversicht und eine klare Zukunftsvision uns positiv ausrichten. Dabei erlangen wir Handlungsfähigkeit und verharren nicht in der „Augen-zu-und-durch-Haltung“.
In diesem Sinne kann ich nur dazu ermutigen, mit der Zuversicht, der Sicht auf sich selbst zu beginnen und die eigenen Emotionen, auch die Angst und Sorge, anzunehmen und wieder loszulassen.
Ein toller Blog-Beitrag, vielen Dank liebe Anna.
Liebe Sonja,
vielen Dank fürs Lesen und für Deinen Kommentar! So wahre Worte… Die Corona Krise hat nun seit 2 Jahren bewiesen, dass Krisen bzw. gravierende Veränderungen „Normalzustand“ sind. Wir können vieles nicht kontrollieren, sondern müssen uns an unser Vision ausrichten und wie Du schreibst alle Emotionen integrieren, die dabei aufkommen.
Lieben Dank fürs Lesen und Kommentieren!
Anna-Lena